Donnerstag, 12. September 2013

Seenebel im Watt

Seenebel im Watt

Bernsen will mit seiner aus Berlin angereisten Tochter ins Watt.
Sietje, seine Frau, tippt sich an die Stirn. Ohne Strandeintritt zu zahlen? Niemals.
Bernsen aber glaubt prinzipiell an den guten Willen der Menschen, will sich allerdings absichern. Er nimmt den Hörer in die Hand, um nachzufragen, ob seine Tochter als Tagesgast dem Weltnaturerbe Wattenmeer einen Besuch abstatten kann, ohne Kurbeitrag und Strandeintritt zu zahlen.
Eine weibliche Stimme meldet sich gruß- und namenlos, outet sich aber immerhin als Mitarbeiterin der zuständigen Cuxhavener Tourismusinstitution. Bernsen bringt sein Anliegen vor und wartet. Nach zwei, drei gefühlten Warteschleifen und einem nachfragenden "Hallo" hört Bernsen ein geschnaubtes, entschiedenes:
Nein, kann sie nicht.
Bitte?
Nein. Erstens, so die Tourismusexpertin, kann seine Tochter den Strand nur zu geführten Wattwanderungen kostenfrei überqueren. Spätestens dann hat sie allerdings einen Obolus an den Wattführer zu entrichten. Also nix mit umsonst ins Watt. Und zweitens: Selbst wenn sie die Wattführung - sagen wir, verweigert - muss sie zahlen. Oder hat sie Flügel und kann über den Strand fliegen? Nein? Dann muss sie wohl den Strand betreten, um ins Watt zu kommen? Aha. Oder hat sie womöglich Sprungfedern unter den Füßen? Auch nicht? Sehn Sie, sagt die Mitarbeiterin der Strandaufsicht. Also muss Strandeintritt zahlen wer ins Watt will, auch die Söhne und Töchter der hier ansässigen Bürger.

Bürger Bernsen wundert sich derweil über Inhalt und Rhetorik. Was die Dame von der Tourismusverwaltung zu neuen Höhenflügen kreativer Vorschläge zu animieren scheint. Alternativ könnte Bernsen samt Tochter auf die frühen Morgenstunden oder den Abend ausweichen, da es zu diesen Zeiten keine Kontrollen gibt.
Auf Bernsens Nachfrage, ob sie weitere praktische Tipps für ihn hat, weist die Dame ihn noch auf den Reiz einer kostenfreien Nachtwattwanderung bei Vollmond hin.
Noch Fragen?
Bernsen will sich bedanken für das informative, höflichkeitsfloskeln vermeidende Gespräch. Das spart allen Beteiligten Zeit. Folgerichtig hat die Dame bereits aufgelegt.

Während Sietje sich in ihrer Meinung nun bestätigt sieht, gibt Bernsen nicht auf und will es direkt am Strand versuchen. Verordnungen sind ja immer so eine Sache, Verwaltungsangestellte eine andere und Papier ist geduldig. Der geschulte Praktiker vor Ort aber der handelt bürgernah.

Wenig später trifft Bernsen in der Nähe des Strandhauses Döse auf eine junge Dame, die an einem Strandkorb steht und Strandeintritt kassiert. Bernsen findet sie hübsch und freundlich und sie erinnert ihn an seine Tochter.
Auf Bernsens Frage hin lächelt die junge Dame. Um ins Watt zu kommen kann er gerne während der ausgewiesenen Wattwanderzeit den Strand überqueren - gratis selbstverständlich. Und an einer geführten Zwangswattwanderung müsse er natürlich auch nicht teilnehmen. Unter uns: das geht gar nicht und ist doch wohl, sie verdreht die Augen, Blödsinn.

Da kann man sich vorstellen, wie der Bernsen erleichtert ist und sich jetzt freut. Am liebsten würde er direkt Sietje oder seine Tochter anrufen und ihnen die frohe Botschaft melden - quasi, o glücklich kostenfreie Zukunft im Watt. Aber die Zeit drängt, das Wasser kehrt bald zurück und Bernsen will die verbleibende Zeit nutzen. Also zieht er sich erfreut den ersten Schuh aus - wobei es bleibt, da die hübsche Dame ihm auf die Schulter tippt und ihn in seinen wattwandernden Vorbereitungen stoppt.
Nicht dass es da ein Missverständnis gibt, meint sie und blickt jetzt etwas strenger. Er kann natürlich kostenfrei den Strand überqueren und ins Watt gehen. Nur eben nicht hier an dieser Stelle.

Jetzt muss man wissen, dass der Bernsen gelegentlich schon mal Hörprobleme hat und von daher seinen Ohren grundsätzlich misstraut. Schon zu oft hat er sich verhört und ohne nachzufragen losgepoltert, weil ihm das, was er zu hören glaubte, nicht gefallen hat. Das gab dann oft unnötigen Stress und Streit und weil Bernsen jetzt keinen Streit will fragt er noch mal nach.
Die junge Frau zeigt Verständnis. Wenn er zur Wattwanderzeit ins Watt will und den Strandeintritt nicht zahlen möchte, muss er die vorgeschriebenen Übergänge benutzen. Und die befinden sich in Sahlenburg, Duhnen und an der Kugelbake.
Bernsen, einen Strumpf und einen Schuh in der Hand, einen nackten Fuß im Sand eingegraben, und dadurch inzwischen in leichte Schieflage geraten, macht den Mund auf und zu und denkt an verendende Fisch. Ob denn diese Übergänge besonders für Wattwanderer präpariert sind? Dienen sie vielleicht als Sicherheitsschleusen und Schutz gegen heimliche Strandbetreter, diese quasi Kleinkriminellen? Da zuckt die linke Augenbraue der jungen Dame leicht. Sie wendet sich ab und dem nächsten Gast zu.

Egal, denkt sich Bernsen: für seine Tochter ist ihm kein Weg zu weit. Also zieht er seinen Fuß aus dem Sand, Strumpf und Schuh wieder an und macht sich auf den Weg Richtung Duhnen, zum angegebenen Kontrollpunkt.
Als Bernsen endlich, durch pflichtbewusste und freundliche Mitarbeiter von einem Übergang zum nächsten verwiesen, den vorgeschriebenen Eingang ins Weltnaturerbe Wattenmeer erreicht, ist dieser verwaist, der Strandkorb verschlossen.
Bernsen blickt auf das Watt hinaus. Ihm ist kalt.
Neuwerk ist verschwunden. Seenebel zieht auf.

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